Wer heilt, hat Recht? — Teil 1: Irren ist menschlich

Anna Pietschmann

am Freitag, 18 November 2016

Für nahezu jedes erdenkliche Problem erhält der hilfesuchende Hundehalter schnell Unmengen an Ratschlägen. Orientierung im Dschungel der vielfältigen Meinungen zu finden, ist da mitunter schwierig. Welches Nahrungsergänzungsmittel hilft bei Gelenkserkrankungen? Schreckt verfütterte Bierhefe Zecken und Flöhe ab? Helfen Bachblüten meinem Angsthund?

Die Ergebnisse kontrollierter Studien werden eher selten zur Beantwortung dieser Fragen herangezogen. Dafür dienen umso häufiger die eigenen Erfahrungen als Grundlage für Empfehlungen. “Bei meinem Hund hat das definitiv geholfen”, “Aber ich habe doch selbst gesehen, wie es gewirkt hat” sind Argumente, die oft in diesem Zusammenhang fallen.

Warum sind die Erfahrungen von uns und anderen manchmal ein schlechter Ratgeber und mit Vorsicht zu genießen?

Hunde können nicht sprechen

Der Mensch kann direkt Auskunft geben, ob er Schmerzen hat oder es ihm anderweitig schlecht geht. Tieren bleibt diese Möglichkeit verwehrt. Daher sind sie zunächst auf unsere Beobachtungen und darauf basierende Schlussfolgerungen angewiesen. Über die Notwendigkeit therapeutischer Hilfe und die Wirksamkeit einer Behandlung entscheidet oft die menschliche Wahrnehmung. Und diese ist leider sehr anfällig für Fehler.

Ich sehe was, was du nicht siehst

Die Wahrnehmungs- und Verarbeitungsvorgänge des Gehirns entscheiden zu großen Teilen über unser Denken und Handeln. Um uns einigermaßen sinnvoll durchs Leben zu manövrieren, muss das Hirn die riesige Menge an Sinneseindrücken unserer komplexen Umwelt ordnen und verarbeiten. Da seine Aufnahmefähigkeit begrenzt ist, kann es nicht alle von den Sinnesorganen gelieferten Informationen verwerten. Deshalb filtert es vermeintlich wichtige von unwichtigen Reizen.

Die Wahrnehmung unserer Umwelt besteht also aus Bruchteilen von Sinnesreizen, die durch bereits im Gehirn gespeicherten Informationen vervollständigt werden. Es arbeitet eher effizient als exakt und liefert kein detailgetreues Abbild der Umgebung.

Solche von unserem Gehirn geleisteten Vorgänge zur Vervollständigung der Sinneswahrnehmung laufen unbewusst ab. Dadurch entsteht schnell die Illusion, dass die eigene Wahrnehmung gänzlich der Wirklichkeit entspricht.

Der blinde Fleck kann aber anschaulich demonstrieren, wie das Gehirn fehlende und unvollständige Informationen ergänzt. Dort, wo der Sehnerv aus dem Auge austritt, sind keine Sehzellen vorhanden. An dieser Stelle können optische Reize nicht wahrgenommen und zum Gehirn weitergeleitet werden. Theoretisch müsste man also permanent eine schwarze Lücke im Sichtfeld wahrnehmen. Praktisch füllt das Gehirn die Lücke und produziert so ein vollständiges Gesamtbild. An den Stellen der blinden Flecken sehen wir eine bloße Konstruktion unseres Denkapparats.

Vieles von dem, was wir hören, sehen und fühlen wird also vom Hirn verzerrt oder sogar erst erschaffen. Optische Täuschungen sind ein weiteres Phänomen, das verdeutlicht, wie wenig Informationen der Umwelt das Gehirn letztendlich aufnimmt und im Gegenzug dafür selbst produziert. Dabei sieht man Dinge, die nicht mit der messbaren Wirklichkeit übereinstimmen. So werden Farben, Formen und Größen von den Objekten einer optischen Täuschung anders wahrgenommen, als sie eigentlich sind.

Nichts ist, wie es scheint

Die Beispiele der optischen Täuschungen sind wohl mit die bekanntesten Irrwege unserer Wahrnehmung. Aber auch sämtliche andere Sinneskanäle unterliegen Verzerrungen des Gehirns. Der Psychologe Roger Shepard stellte 1964 erstmals die Shepard Tonleiter vor. Dabei handelt es sich um eine akustische Täuschung, welche die Illusion einer ewig aufsteigenden Tonfolge vermittelt. Tatsächlich werden jedoch dauerhaft die gleichen Töne in unterschiedlichen Lautstärken abgespielt.1

Viele Handynutzer hören ihr Handy klingeln oder spüren einen Vibrationsalarm, obwohl zu diesem Zeitpunkt niemand anruft oder Nachrichten verschickt. Solch ein Phantom-Vibrieren empfinden laut mehreren Umfragen 70-90 Prozent der Mobiltelefonbesitzer in regelmäßigen Abständen. Je stärker und angespannter ein Anruf erwartet wird, desto höher scheint die Chance, eigentlich nicht existierende Handygeräusche wahrzunehmen.2

Bekannte Phänomene der Sinnestäuschung bringen vereinzelt unbewusste Vorgänge in das Bewusstsein. Sie decken aber nur einen winzig kleinen Teil der vom Gehirn verursachten Verzerrungen ab. Denn nicht nur die Wahrnehmung, auch das gesamte Denken, Urteilen sowie Erinnern wird vom Hirn durch beispielsweise bisher gemachte Erfahrungen oder aktuelle Bedürfnisse beeinflusst und verzerrt.

Die Art und Weise, mit der das Gehirn innere und äußere Reize filtert und bearbeitet, hat sich im Verlauf der Evolution als sinnvoll erwiesen. Die Vorgänge dienen in erster Linie dem Überleben. Dafür benötigen wir einen Denkapparat, der schnell aus wenigen Informationen überlebenssichernde Schlüsse zieht. Der Urmensch wäre wohl recht schnell ausgestorben, wenn sein Gehirn die Silhouette eines Säbelzahntigers oder einzelne seiner Laute nicht rasch dem gefährlichen Tier zugeordnet hätte. Eine mehrmalige im Nahbereich erfolgende Überprüfung, ob es sich wirklich um einen Säbelzahntiger mit spitzen Zähnen handelt und nicht um einen in der Dämmerung ähnlich aussehenden Gegenstand, wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit die tödlichere Variante gewesen.

Die Welt in unserem Kopf

Auch wenn biologisch sinnvoll und notwendig, zahlen wir ein gewissen Preis für die Arbeitsweise unseres Gehirns. Seine Verarbeitungsmechanismen machen uns unbewusst anfällig für fehlerbehaftete Schlussfolgerungen und Denkmuster. Wer subjektiv völlig von seiner Wahrnehmung und Meinung überzeugt ist, kann objektiv sehr weit entfernt davon liegen.

In der Psychologie werden einige der die Wirklichkeit verzerrenden Wahrnehmungs- und Denkprozesse beschrieben, denen wir besonders häufig unterliegen. Zu ihnen gehört der sogenannte Bestätigungsfehler, der unter seinem englischen Namen “Confirmation Bias” etwas bekannter ist. Der Begriff steht für das Phänomen, Informationen passend zu unseren Überzeugungen auszuwählen und zu interpretieren. Das Resultat:

  • Wir suchen bevorzugt nach Informationen, die unsere Einstellungen bestätigen
  • Aussagen, die unsere Einstellungen und Meinungen infrage stellen, halten wir eher für unglaubwürdig und werden häufiger ausgeblendet
  • Wir interpretieren Aussagen und Erlebnisse so, dass sie unsere Grundsätze und Einstellungen stützen
  • An Erlebnisse und Aussagen, die unseren Überzeugungen widersprechen, erinnern wir uns schlechter

Eine 1979 in Amerika durchgeführte Untersuchung zeigt, welche Auswirkungen Confirmation Bias haben kann. Dazu wurden Studenten in zwei Gruppen eingeteilt, je nachdem, ob sie Gegner oder Befürworter der Todesstrafe waren. Beiden Gruppen legten die Wissenschaftler Studien vor, die extra für das Experiment erfunden worden waren. In den Scheinstudien ging es um die Sinnhaftigkeit der Todesstrafe. Während in der einen Studie das Ergebnis lautete, die Todesstrafe würde auf potentielle Täter abschreckend wirken und somit Morde verhindern, konnte in der anderen kein derartiger Effekt ermittelt werden.

In beiden Gruppen bewerteten die Teilnehmer jeweils die Studie für qualitativ hochwertiger und beweiskräftiger, die ihre eigene Meinung zur Todesstrafe stützte. Die Gültigkeit der entsprechenden anderen Studie bezweifelten sie hingegen und schätzten sie als fehler- und mängelbehaftet an. Obwohl nun beiden Gruppen von Studenten die gleichen zwei Scheinstudien vorlagen, kamen sie zu völlig entgegengesetzten Schlussfolgerungen und fühlten sich durch sie in ihrer bisherigen Meinung bestätigt.3

Menschen tendieren also dazu, selbst die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung verzerrt in Richtung der eigenen Einstellung wahrzunehmen.

Wer überzeugt davon ist, Hunden würde Getreide eher schaden als nützen, stellt zu einem anderen Resultat kommende Studien folglich eher in Frage.

Ach du dicker Hund

Für eine Studie mussten 110 Hundehalter die Figur ihres Hundes beurteilen. Sie sollten aus 5 möglichen Optionen (sehr dünn, dünn, ideal, übergewichtig, stark übergewichtig) die Bezeichnung auswählen, welche am treffendsten den Figurzustand wiedergeben würde.

66 Prozent der Hundehalter schätzten ihren Hund falsch ein. Die meisten vom Tierarzt als übergewichtig bewerteten Hunde wurden von ihren Haltern als normalgewichtig beurteilt. Kurzum: Über die Hälfte der Hundebesitzer dieser Studie war davon überzeugt, dass sich ihr eigentlich übergewichtiger Hund in einem idealen Figurzustand befindet. Die überschüssigen Pfunde auf den Rippen wurden schlichtweg übersehen.

Den Haltern wurden keinerlei Anhaltspunkte gegeben, wie nun genau ein normalgewichtiger Hund mit idealer Figur oder ein übergewichtiger aussieht. Mangelnde Kenntnisse über die korrekte Beurteilung der Figur hätten demnach eine Ursache für die falschen Einschätzungen sein können.

Deshalb erhielten alle 110 Studienteilnehmer eine kleine Schulung in Sachen Figurbeurteilung. Mittels des Purina Körperkondition Beurteilungsbogens vermittelten ihnen die Tierärzte, anhand welcher Merkmale Über-, Unter-, oder Idealgewicht erkennbar ist. Danach mussten sie mit dem neu erlangten Wissen ihre Vierbeiner nochmals einschätzen. Abermals beurteilte über die Hälfte ihren übergewichtigen Hund fälschlicherweise als idealgewichtig.

Erstaunlicherweise gaben 77 Prozent der Hundebesitzer an, dass sie durch die Schulung enorm viel dazu gelernt hätten und nun besser in der Lage seien, den Gewichtszustand einzuschätzen.4

Selbst wenn Hundebesitzern detailliert erklärt wird, woran sie einen übergewichtigen Hund erkennen, sind viele von ihnen nicht in der Lage, die entsprechenden Anzeichen bei ihrem eigenen Vierbeiner zu sehen.

Die Teilnehmer der Studie waren höchstwahrscheinlich weder sehbehindert noch halluzinierend. Confirmation Bias sei Dank hält das Gehirn an der vorher bestehenden Überzeugung fest, einen idealgewichtigen Hund vor sich zu haben. Neue, die bestehende Meinung in Frage stellende Informationen interpretiert und verzerrt das menschliche Hirn bevorzugt so, dass die ursprüngliche Meinung unterstützt und bestätigt wird.

Fazit

Wir alle unterliegen unbewusst den Verzerrungsprozessen unseres Gehirns. Können wir also unseren Sinnen trauen? Nein. Sind unsere Einstellungen und Überzeugungen oft weit von der eigentlichen Wirklichkeit und den entsprechenden Fakten entfernt? Ja.

Neben Confirmation Bias gibt es noch andere Fallen, in die das Gehirn immer wieder tappt. Welche das sind und warum wegen ihnen Skepsis bei Erfahrungsberichten über Mittelchen und Behandlungsmethoden für den Vierbeiner angebracht ist, findet ihr im folgenden Blogpost.

  1. Shimizu Y. Umeda M. Mano H. Aoki I. Higuchi T. Tanaka C. ( 2007 ). Neuronal response to Shepard's tones. An auditory FMRI study using multifractal analysis .Brain Res 2007 Dec 16;1186:113-23. Epub 2007 Oct 16.

  2. Michelle Drouin, Daren H. Kaiser, Daniel A. Miller: Phantom vibrations among undergraduates: Prevalence and associated psychological characteristics. In: Computers in Human Behavior. 28, 2012, S. 1490, doi:10.1016/j.chb.2012.03.01

  3. Charles G. Lord/Lee Ross/Mark R. Lepper, Biased Assimilation and Attitude Polarization: The Effects of Prior Theories on Subsequently Considered Evidence, Journal of Personality and Social Psychology 1979, 2098-2109.

  4. Eastland-Jones, R.C., German, A.J., Holden, S.L., Biourge, V. and Pickavance, L.C. (2014) ‘Owner misperception of canine body condition persists despite use of a body condition score chart’, Journal of Nutritional Science, 3. doi: 10.1017/jns.2014.25.