Wer heilt, hat Recht? — Teil 2: Der Placebo-Effekt
Anna Pietschmann
am Freitag, 20 Januar 2017Zu beurteilen, ob dem Hund ein Medikament, Nahrungsergänzungsmittel oder Globuli hilft, ist doch eigentlich ganz einfach. Entweder geht es dem Vierbeiner durch die jeweilige Behandlung besser oder eben nicht. Leider ist es dann doch wesentlich schwieriger, die Wirksamkeit von unterschiedlichen Mitteln und Maßnahmen einzuschätzen.
##Placebo
Pillen ohne Wirkstoff oder vorgetäuschte Operationen können mess- und spürbare Auswirkungen haben. Unter Rückenbeschwerden oder Migräne leidende Patienten empfinden beispielsweise durch Scheinbehandlungen oft weniger Schmerzen. Wer sich durch Pillen aus Zucker oder Spritzen mit Salzösung besser fühlt, unterliegt dem sogenannten Placeboeffekt. Dieser beeinflusst nicht nur die Wahrnehmung von Schmerzen. Auch bei Depressionen oder Schlafstörungen können die Symptome durch Scheinmedikamente gelindert werden.
Mittlerweile ist bekannt, dass weit mehr als bloße Einbildung und Hoffnung hinter dem Placeboeffekt stecken. Viele Personen, die bei vorliegenden Schmerzen eine Scheinbehandlung erhalten, schütten vermehrt körpereigene, schmerzstillende Stoffe aus. Häufig ist auch eine geringere Aktivität in den bei Schmerzen aktiven Hirnregionen zu verzeichnen. Allein der Gang zum Arzt oder das Schlucken einer Pille können derartige körperliche Reaktionen auslösen. Daher sind Placeboeffekte sogar bei Patienten zu beobachten, die wissentlich ein Scheinmedikament einnehmen. 1
##Placeboeffekte beim Hund?
Die Forschung rund um die Wirkung von Placebos hat ein besonders für Tierhalter interessantes Phänomen aufgedeckt. Im Gegensatz zum Menschen verstehen Hunde sicherlich nicht, dass sie wegen einer bestimmten Krankheit behandelt werden. Eine positive Erwartungshaltung des Vierbeiners gegenüber der Therapie und daraus entstehende Placeboeffekte sind daher nicht zu erwarten.
Dem Besitzer ist hingegen bekannt, weshalb sein Hund Medikamente oder Nahrungsergänzungsmittel bekommt. Die Beschwerden sollen durch das entsprechende Mittel geheilt oder gelindert werden. Genau diese Erwartung ist wohl mit die Ursache eines für Hundehalter bedeutsamen Placebo-Phänomens.
##Kontrollierte Studien
Die Wirksamkeit von Medikamenten wird in kontrollierten Studien überprüft. Häufig werden deren Teilnehmer in zwei Gruppen eingeteilt. Die eine erhält den eigentlichen Wirkstoff, die andere, die Placebogruppe, nur ein gleich aussehendes Scheinmedikament. So soll geklärt werden, ob das Medikament den Krankheitsverlauf wirklich beeinflusst oder die beobachteten Veränderungen hauptsächlich auf anderen Ursachen wie dem Placeboeffekt beruhen. Dieses Verfahren wird auch in der Tiermedizin angewendet.
Im Rahmen einer solchen Studie wurde ein Schmerzmittel für unter Arthrose leidende Hunde untersucht. Die Arthrose tritt sehr häufig beim Hund auf und ist eine schmerzhafte, oft durch Fehlstellung entstehende Erkrankung der Gelenke. Während die eine Hälfte der erkrankten Hunde das zu prüfende Schmerzmedikament bekam, erhielten 58 der teilnehmenden Hunde Pillen ohne Wirkstoff. Die Scheinpillen waren äußerlich nicht von dem zu überprüfenden Medikament zu unterscheiden. In der Placebogruppe wussten also weder die Halter noch behandelnden Tierärzte, dass der jeweilige Hund lediglich ein Scheinmedikament und nicht das eigentliche Schmerzmittel erhielt.
Vor Studienbeginn erfolgte eine Befragung. Dabei mussten Hundehalter und Tierärzte anhand einer Lahmheitstabelle das aktuelle Maß an Beschwerden des Hundes einschätzen. An drei weiteren Folgeterminen wurden die Besitzer und Veterinäre jeweils befragt, ob der ursprüngliche Grad an Beschwerden gleich blieb, sich verschlechterte oder verbesserte.
Lahmheiten und Unregelmäßigkeiten im Gangbild entstehen, wenn der Hund eine schmerzende Gliedmaße entlastet. Dafür wird das Körpergewicht vermehrt auf weniger schmerzhafte Regionen des Körpers verlagert. Solche Entlastungen und Feinheiten im Bewegungsablauf sind für das menschliche Auge oft nur schwer erkennbar. 2345 Selbst geübte Tierärzte haben Schwierigkeiten, Bewegungsstörungen sicher mit bloßem Auge zu erfassen.6 Glücklicherweise ermöglicht mittlerweile moderne Technik, eine nicht von unseren Sinnen wahrnehmbare, unregelmäßige Belastung der Gließmaßen zu erfassen. 7
Für eine objektive Messung der Beschwerden verwendeten die Forscher daher in der Studie die aus der Sportmedizin bekannten Kraftmessplatten. Mittels dieser kann genau festgestellt werden, wie stark oder schwach der Hund seine einzelnen Beine be- oder entlastet. Die teilnehmenden Hunde mussten zu den zeitgleich mit den Befragungen stattfindenden Untersuchungsterminen über die Kraftmessplatten traben. So konnte genauer ermittelt werden, wie sehr der Hund aufgrund seiner arthrosebedingten Schmerzen ein Bein schont.
Die Messungen ergaben, dass im Verlauf des Untersuchungszeitraum bei den meisten Hunden der Placebogruppe weder eine Verbesserung noch Verschlechterung eintrat. Sie entlasteten die erkrankte Gliedmaße zu jedem Messzeitpunkt im gleichen Maße.
Andere Resultate brachte hingegen die Befragung der Hundehalter und Tierärzte. Obwohl sich objektiv laut den Messungen nichts an der Lahmheit änderte, berichtete über die Hälfte der Hundehalter von einer deutlichen Verbesserung. Auch ein großer Teil der Tierärzte gab an, dass sie bei ihren Untersuchungen eine geringere Schmerzhaftigkeit feststellen konnten als vor der Behandlung mit dem zu prüfenden Medikament.8
##Placebo by Proxy
Dass Messung und Beobachtung so weit auseinanderliegen, ist keine Seltenheit. In zahlreichen Studien zur Arthrosebehandlung von Hunden beobachteten Wissenschaftler ein ähnliches Ergebnis. Halter und Tierärzte berichten oft von einem deutlichen Behandlungserfolg und einer Verbesserung des Gangbildes, obwohl sich der entsprechende Hund in der Placebogruppe befindet und die objektive Messmethoden dieser Beurteilung widersprechen. Die von ihnen wahrgenommene Linderung der Beschwerden existiert in der Realität gar nicht. 91011121314
Dieses Phänomen wird “Placebo by Proxy” genannt. Er betrifft nicht das Tier an sich, sondern nur den Behandelnden und ist ein Ergebnis unserer oftmals verzerrten menschlichen Wahrnehmung. Wer seinem Hund Medikamente, Nahrungsergänzungsmittel oder anderen Therapieformen zukommen lässt, hofft auf eine bestimmte Veränderung. Die Hoffnung kann unbewusst die Wahrnehmung beeinflussen und so zu dem Urteil führen, der Hund würde besser als vor der Behandlung laufen, obwohl es eigentlich keine Veränderung gibt.
Die Tatsache, eben kein ungetrübtes Urteilsvermögen zu besitzen und die Dinge anders zu sehen, als sie in der Wirklichkeit sind, führt häufig zu Irritationen. Das ist wenig verwunderlich, da die dafür verantwortlichen Vorgänge im Gehirn unbewusst ablaufen.
##Sinnvolle Maßnahmen
Den Daten zahlreicher Studien zufolge scheinen Tierbesitzer und Tierärzte häufig bei den unterschiedlichsten Behandlungsmaßnahmen Verbesserungen wahrzunehmen, selbst wenn der Hund nur eine Scheintherapie bekommt und sich objektiv nichts an seinen Beschwerden ändert. Der Placebo by Proxy benannte Effekt birgt Risiken für den Vierbeiner. Der Erwartungshaltung gegenüber einer Therapie kann dazu führen, dass sein Leiden unterschätzt und seine Lebensqualität durch eine unwirksame Therapie vermindert wird.
Jetzt kann man natürlich annehmen, im Gegensatz zu anderen Menschen dem Placebo by Proxy Effekt und anderen Wahrnehmungsverzerrungen des Gehirns nicht zu unterliegen. Die Wahrscheinlichkeit hierfür ist nicht besonders hoch.
Eine andere Möglichkeit besteht darin, die Erkenntnisse über dieses Phänomen zum Wohle des Hundes zu nutzen. Die Wirksamkeit von bei Erkrankungen des Bewegungsapparats eingesetzten Operationsmethoden und Medikamenten wird mittlerweile oft mittels objektiver, computergestützter Gangbildanalysen untersucht. In Verbindung mit den Beobachtungen der Tierhalter und Ärzte entsteht so ein aussagekräftiges Bild darüber, welche Behandlungsmethoden unseren Hunden wirklich helfen können.
Gleichzeitig verdeutlicht der Placebo by Proxy Effekt, dass man bei Erfahrungsberichten oder der eigenen Beurteilung über Behandlungserfolge Vorsicht walten lassen sollte.
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